Lisa

Darf ich leben?

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Lisa

Darf es mir gut gehen? Darf ich mich in Ordnung finden? Ist es okay was ich denke? Sind meine Gefühle akzeptabel? Wie andere Menschen sich in ihrem Körper zuhause und wohlfühlen, habe ich lange nicht verstanden. Wie man sich als Teil von etwas erleben kann und dennoch man selbst sein kann – war mir lange ein Rätsel.

Meine Eltern konnten mir, aufgrund ihrer eigenen Geschichten, nicht das Gefühl vermitteln das ich willkommen und in Ordnung bin. Das lang ersehnte Mädchen kam ungeplant, im Doppelpack, war doppelt so schwer wie der Zwillingsbruder. Von der Art und dem Aussehen her war ich ganz und gar nicht Mädchen. Als einzigartig und eins habe ich mich nicht erlebt, weil es mich und meine Bruder nur zusammen gab. Das Gefühl nicht richtig zu sein und zu viel Platz ein zu nehmen, machte es mir nicht leicht mich anzunehmen. Spät erst habe ich mir meinen Namen und Geschlecht zuordnen können.

Geholfen hat mir unsere Katze. Sie war da und wärmte mich.

Lange Jahre habe ich gehofft es kommt jemand und entschuldigt sich dafür, dass er mich in dieses Haus, diese Familie gesteckt hat. Es schien mir wir haben wie zufällig ausgewählte Menschen unter einem Dach gewohnt. Es war kühl und ich habe mich nicht als dazugehörig erlebt. Meine Eltern kämpften mit sich, Gefühlen und Alkohol. Sie kämpften gegeneinander und als Kinder standen wir dazwischen.. Mein Vater hatte Freude am Essen und meine Mutter verweigerte es. Er fand knochige Frauen schön und meine anorektische Mutter konnte keine Nähe aushalten. Sie stritten oft und waren lange weg. Wir haben damit gerechnet, dass sie sich spätestens an unserem 18. Geburtstag trennen. Gesprochen mit mir wurde kaum. Was ich sagte zählte nicht.

Geholfen hat mir eine Kindersitterin. Sie lachte und spielte mit uns.

In Kita und Schule war ich eine Randfigur. Ich war überfordert mit den vielen Kindern und wusste nicht wie ich mich verhalten soll. So war ich ein Sonderling. Mir fehlte die Anleitung wie zwischenmenschliches Leben funktioniert. Ich war geduldet und durch meine Größe und Stärke akzeptiert. Einige Freunde hatte ich, die jedoch wegzogen.

Meine Mutter hat mir immer gesagt ich sei zu dumm und fett für diese Welt. Haare kämmen und Kleider gab es nicht. Weiblichkeit sei gefährlich, ich nehme zu viel Raum ein und gut Aussehen sei ein Fluch. Ich trug die Kleidung meiner Brüder und wurde auf der Straße als „Es“ bezeichnet, weil man mich keinem Geschlecht zuordnen konnte. Ich habe mich leer gefühlt und hässlich.

Geholfen haben mir Bücher, in denen ich versinken konnte.

Mit der Pubertät habe ich begonnen meinen Körper zu bekämpfen. Ich habe mir die Haut an den Armen, Beinen, der Brust, dem Bauch und dem Unterleib zerschnitten und verbrannt. Ich riss mit die Haare aus. Nahrung habe ich zu mir genommen und wieder erbrochen. Ich habe früh angefangen mich mit Alkohol zu betäuben und Pro Ana für mich entdeckt. Mein Vater wollte, dass alle seine Kinder studieren. Einen angesehenen Beruf zu erlernen war ihm wichtig. In der Schule kam ich nicht mehr mit. Tieftraurig und schlaflos war ich. Nicht gesehen habe ich mich gefühlt und einsam. Mir das Leben zu nehmen funktionierte nicht.

Geholfen hat mir der Austausch mit Menschen im Internet.

Weiter so leben wollte ich nicht. Also holte ich mir die Unterstützung, die meine Familie mir nicht geben konnte. Ich ging zu einer Beratungsstelle, zu Therapeuten. Ich besorgte mir einen Wohnheimplatz. Suchte Hat in Subkulturen und in vielen Betten. Mehr und mehr Drogen nahm ich und ich suchte Männer, die mich schlecht behandelten. Ich dachte das muss so sein. Mir darf es nicht gut gehen. Frauen müssen leiden.

Geholfen hat mir die Religion, meine Ausbildung dir mir Struktur gab und Zeit.

Heute.

Es ist klar ich entspreche nicht den Erwartungen meiner Eltern aber das muss ich auch gar nicht mehr. Mein Körper ist weiblich rund und vollkommen okay. Ich darf Raum einnehmen in dieser Welt, von der ich ein Teil bin. Mein Körper zeigt noch die Spuren meines Lebens aber das ist gut so. Er erinnert mich jeden Tag daran nett zu mir und anderen zu sein. Ich darf leben und es darf mir gut gehen. Ich habe einen wundervollen Freund, der mich liebt wie ich bin. Und ich kann ihn lieben. Ich darf das. Ich muss nicht studieren um angesehen zu werden. Mein Vater hat eine neue Familie und ich wenig Kontakt zu ihm. Meine Mutter ist nicht verhungert, sondern an Krebs gestorben aber ich lebe. Bei meiner Arbeit im Kinderheim profitierte ich von dem, was ich im Leben gelernt habe. Ich bin okay, so wie ich bin.